Focus-Online-Artikel: Mess-Experte erklärt, warum es nie Diesel-Fahrverbote hätte geben dürfen

Fehler der Behörden

Mess-Experte erklärt, warum es nie Diesel-Fahrverbote hätte geben dürfen.

Mittwoch, 24.10.2018, 12:12

Diplom-Ingenieur Martin Schraag hat sich im Jahr 2012 einen Diesel-PKW gekauft – der soll nun in Stuttgart verboten werden. Dabei ließen EU und deutsche Behörden die Autofahrer wider besseren Wissens ins Messer laufen, erklärt Schraag in einem Gastbeitrag.

Vor sechs Jahren habe ich mir einen teuren Diesel-PKW gekauft. Er hat die Abgasnorm Euro 5 – und wird künftig mit aller Wahrscheinlichkeit nach in Stuttgart und anderen deutschen Städten Fahrverbot haben. Man muss sich das einmal klarmachen: Fahrverbot für ein Auto, das gerade erst ein Drittel der durchschnittlichen Lebensdauer eines Autos in Deutschland (rund 18 Jahre) erreicht hat und jetzt im schlimmsten Fall verschrottet werden muss. Und das soll der Umwelt helfen? Ich denke nicht, dass sich Fahrzeugbesitzer das gefallen lassen müssen.

Autos verschrotten für die Umwelt?

Bei all der Diskussion um angeblich dramatisch schlechte Luft in den Innenstädten, das Fehlverhalten der Autohersteller und den Sinn und Unsinn von Hardware-Nachrüstungen fällt meines Erachtens der wesentliche Punkt unter den Tisch. Nämlich der, warum es überhaupt Diesel-Fahrverbote geben soll. Meiner Erkenntnis nach basiert der Aktionismus vieler Städte auf einem gewaltigen Fehler, den die Behörden einschließlich der EU-Kommission über Jahre hinweg nicht erkannt oder schlicht ignoriert haben. Und vor diesem Hintergrund ist kein Fahrverbot zu rechtfertigen.

Eine Reise ins Dickicht der EU-Richtlinien

Ich habe 35 Berufsjahre in der Medizintechnik verbracht. Forschung und Entwicklung, Projektmanagement, Quality & Regulatory. Ich habe in internationalen Normengremien an Sicherheits- und Risikomanagement-Normen mitgearbeitet. Recherchen und Umgang mit EU-Richtlinien sind für mich Routine. Nach dem ersten Stuttgarter Urteil bezüglich des Luftreinhalteplans im letzten Jahr wurde ich stutzig. Warum ist eigentlich Deutschland das einzige Land, das allein aufgrund von überschrittenen Stickoxid-Messwerten Fahrverbote für teilweise nicht einmal vier Jahre alte Fahrzeuge verhängt?

Ich habe die Richtlinie 2008/50/EG studiert. Die folgende Argumentation, mit der ich übrigens auch einen Einspruch gegen den Luftreinhalteplan vom August 2018 beim Regierungspräsidium Stuttgart begründet habe, wird für Laien nicht einfach zu verstehen sein. Doch gerade in einer Zeit, in der Politik und Medien mit plakativen Halbwahrheiten nur so um sich werfen, möchte der eine oder andere vielleicht einmal etwas über die wahren Hintergründe erfahren.

  1. Sind Diesel-Fahrverbote verhältnismäßig?

Diesel-Fahrverbote sind nicht verhältnismäßig, denn das Regierungspräsidium Stuttgart hat es versäumt, den letztlich über 100.000-fachen Eingriff in das Eigentum betroffener Besitzer von Kraftfahrzeugen mit Dieselmotor gegen die tatsächlichen Gesundheitsrisiken zu prüfen und ggf. von Gerichten entscheiden zu lassen. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Betrachtung des Jahresmittelwerts von Stickstoffdioxid, dessen Grenzwert die EU in der Richtlinie 2008/50/EG auf 40 Mikrogramm pro Kubikmeter festgelegt hat.

Um die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit gegen andere Grundrechte abzuwägen, wäre es notwendig gewesen, festzustellen, ob eine Überschreitung des Grenzwerts ein nicht vertretbares gesundheitliches Risiko darstellt. Es genügt nicht, wie in Abschnitt 3.2 des Luftreinhalteplans Stuttgart denkbare gesundheitliche Folgen (Gefahren) einer Exposition von Stickoxiden aufzulisten. Ohne konkrete Risiken zu bewerten (Größenordnungen, Wahrscheinlichkeiten) kann keine tatsächliche Verhältnismäßigkeit festgestellt werden.

Die Richtlinie 2008/50/EG besagt nämlich nicht, dass bei Überschreiten des Grenzwerts von 40 Mikrogramm die gesundheitlichen Risiken nicht vertretbar sind. Der Grenzwert ist zwar „aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse“ mit dem Ziel festgelegt worden, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit zu vermeiden, zu verhüten oder zu verringern, ohne aber eine Risikobewertung zu beinhalten. Was bedeutet das nun tatsächlich?

  1. Welchen Sinn haben Grenzwerte?

Der Grenzwert ist in seiner Wirkung primär ein administratives Hilfsmittel, an den sich die Notwendigkeit von Luftreinhalteplänen knüpft. Dazu gehörte nach Vorgabe der EU ein Zeitplan. Im Jahr 2000 waren Luftreinhaltepläne erst ab 60 Mikrogramm erforderlich, eine Regelung, die schwer zu rechtfertigen gewesen wäre, wenn bereits ab 40 Mikrogramm ein nicht vertretbares gesundheitliches Risiko bestanden hätte.

Der Grenzwert von 40 Mikrogramm basiert auf einer mit Einschränkungen versehenen Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Das Problem: Die „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ haben den Stand von vor über zwanzig Jahren. Die WHO hat in den Folgejahren immer wieder betont, dass die wissenschaftliche Grundlage nicht robust ist. Anzumerken ist, dass aus derselben Zeit und auf Basis derselben „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ der deutsche Richtwert für Innenräume von 60 Mikrogramm stammt.

  1. Warum sind in den USA 100 Mikrogramm kein Problem?

Der neueste Stand der Wissenschaft dürfte in der umfangreichen Metastudie der US-Umweltbehörde EPA (Environmental Protection Agency) von 2016 zusammengefasst sein. Das Ergebnis dieser Studie ist die Empfehlung, den Langzeitgrenzwert für Stickstoffdioxid auf ca. 100 Mikrogramm pro Kubikmeter festzulegen.

Martin Schraag geht davon aus, dass Diesel-Fahrverbote vor Gericht angreifbar sind – wegen elementarer Fehleinschätzungen der Behörden.

Es gibt also starke Indizien dafür, dass eine langzeitige Überschreitung von 40 Mikrogramm an der Straße ein vertretbares Risiko darstellen und dies faktisch auch schon vor 18 Jahren implizit Teil der Vorgängerin der Richtlinie 2008/50/EG war. Verkehrsverbote sind auf Basis dieser Daten keine sogenannten ‚geeigneten Maßnahmen‘ eines Luftreinhalteplans, um die vorgegebenen Grenzwerte so schnell wie möglich zu erreichen.

Soweit ich weiß, hat das Regierungspräsidium vor den Verwaltungsgerichten keine vergleichbare Argumentation vorgetragen. Die genannten Fakten betreffen aber unmittelbar die Akzeptanz der betroffenen Bevölkerung.

  1. Verwaltungsgerichte haben Prüfung unterlassen

Auch wenn die Verwaltungsgerichte die Frage der tatsächlichen gesundheitlichen Risiken nicht prüfen wollten, wäre es möglich gewesen bei der Geeignetheit der Maßnahmen darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/50/EG schon von Anfang an von einer offensichtlich unrichtigen Einschätzung ausging.

2008 war anhand bereits bestehender Luftreinhaltepläne und aktueller Messungen auf Basis der Vorgängerrichtlinie 1999/30/EG den zuständigen Behörden bekannt, dass die Zielwerte für Stickstoffdioxid 2010 und auch bis 2020 aller Voraussicht nach ohne Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge nicht erreichbar sein würden.

2008 war für Pkw die Euro 4 Norm gerade zwei Jahre gültig, es war auch bekannt, dass der NEFZ den Realbetrieb nur unzureichend abbildet. Trotzdem wurde zu dieser Zeit die Verordnung für Euro 5 und 6 auf dieser Basis veröffentlicht, wobei auch nach Norm Euro 5 lediglich eine Reduzierung von 28 Prozent bei Stickstoffdioxid geplant war. Die weitere Reduzierung durch Euro 6 beginnt erst seit ungefähr zwei Jahren zu wirken und spielte zu Beginn der Klagen der Deutschen Umwelthilfe (DUH) praktisch keine Rolle.

Umweltbundesamt Schadstoff-Ausstoß bei Diesel-PKW (aufgeführt sind hier nur die Stickoxide): Im realen Verkehr überschreiten viele Autos die Grenzwerte massiv. Euro 5-Fahrzeuge schneiden dabei am schlechtesten ab – noch schlechter als Euro 4-Diesel. Beim Feinstaub dagegen verursachen Diesel mittlerweile kaum noch Emissionen

  1. Zielwerte waren gar nicht erreichbar

Da die Zielwerte bis 2010 nicht erreichbar waren, hat die Bundesrepublik Deutschland für 57 Luftqualitätsgebiete Fristverlängerung unter Beigabe neuer Luftreinhaltepläne bei der EU-Kommission beantragt.

Die Begründung war u.a., dass die Stickstoffdioxidemissionen bei Dieselfahrzeugen nicht schnell genug sänken. Der eingereichte Luftreinhalteplan von Stuttgart war ohne Verkehrsverbote nicht ausreichend, die Fristverlängerung wurde nicht gewährt.

Dies unterstreicht, dass die Richtlinie 2008/50/EG schon 2008 auf einer unrealistischen Einschätzung basierte. Die geplanten Zeitvorgaben der sie begleitenden Maßnahmen der Euro 5 und Euro 6 Einführungen standen in völligem Widerspruch zu den Zeitvorgaben der Richtlinie, wann die Luftmesswerte eingehalten werden sollten.

  1. Behörden hätten vor dem Kauf von Euro 5-Dieseln warnen müssen

Daraus folgt: Das Regierungspräsidium hätte nicht nur schon frühzeitig Käufer von Euro 5 Dieseln warnen, sondern auch bei der Verteidigung der Verhältnismäßigkeit auf die der Richtlinie 2008/50/EG zugrundeliegende Fehlplanung aufmerksam machen müssen.

Eine offensichtlich unrichtige Einschätzung bei der Verabschiedung eines Gesetzes muss aber bei der Geeignetheit von Maßnahmen, die daraus erwachsen, berücksichtigt werden.

  1. Wie Messstationen platziert werden müssen

Damit nähern wir uns dem eigentlichen Kern. Ich gehe nämlich davon aus, dass die vom Regierungspräsidium ausgewiesenen Messstellen nicht den Vorgaben der Richtlinie 2008/50/EG entsprechen, und dass dies auch für die 39. BImSchV gilt, die die Änderungsrichtlinie 2015/1480 einschließt.

Die Richtlinie 2008/50/EG fordert, dass Messstellen nicht zu kleinräumig messen, mit ausreichendem Abstand zu Emissionsquellen, sodass sich Emissionen ausreichend mit der Umgebungsluft vermischen können.

Dazu gehört, dass Messstellen repräsentativ für 100 Meter Straßenabschnitt sind und dass im Umkreis von 270 Grad über mehrere Meter der Luftstrom um einen Messeinlass nicht durch Hindernisse (Gebäude, Bäume, usw.) beeinträchtigt werden darf.

Es besteht Grund zur Annahme, dass die Messbedingungen in Stuttgart von denen anderer Kommunen innerhalb der EU abweichen, obwohl die Messbedingungen EU-weit einheitlich sein sollen, und zwar derart, dass in Stuttgart der Grenzwert für Stickstoffdioxide und auch möglicherweise Feinstaub eher überschritten wird als in Kommunen anderer Europäischer Mitgliedstaaten.

  1. Stuttgart hat Stationen falsch aufgestellt

In der Dokumentation der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) der Messergebnisse 2004 bis 2016 fehlt in der Bemaßung die des Freiraums im Winkel von 270 Grad völlig. So ist auch nicht offensichtlich, wie ‚mehrere Meter‘ vom RP Stuttgart interpretiert wurden, was einen EU-weiten Vergleich erschwert.

Die Platzierung der Messstelle in einer Art Nische (extremer noch in Ludwigsburg, Friedrichstraße) lässt vermuten, dass der notwendige Freiraum in Anbetracht einer sehr frequentierten Straße für eine Vermischung von Autoabgasen mit der Umgebungsluft nicht ausreichend ist.

Nun verweist die Dokumentation des LUBW auf mehrere Profilmesspunkte, die 2004 bis 2006 und 2016 die Repräsentativität der Messung am Neckartor über einen 100 m langen Straßenabschnitt belegen sollten. Auch bei diesen Profilmesspunkten ist zu vermuten, dass der Freiraum zu den Gebäuden nicht ausreichend war, er ist zumindest nicht dokumentiert.

Auch ist die Interpretation des RP Stuttgart eigenwillig, dass 100 m Straßenabschnitt nur eine Seite der Straße abdeckt, und zwar die denkbar ungünstigste Messbedingung. Zur Straße gehört auch die andere Seite hin zu den Parkanlagen.

Sicher hat die EU-Kommission ihre in der RL 2008/50/EG Art. 7 niedergelegten Pflichten vernachlässigt, eine Harmonisierung der Messstellen innerhalb der EU voranzutreiben.

Die möglichen Folgen daraus wurden aber nicht in den Urteilen der Verwaltungsgerichte berücksichtigt. Die Untätigkeit der EU ist im „JRC-AQUILA Position Paper“ der zuständigen Arbeitsgruppe der Kommission dokumentiert.

Das Position Paper nimmt aber nicht nur Stellung zur Untätigkeit der Kommission, sondern enthält auch einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2008/50/EG und zwar genau zu den oben erwähnten Kriterien zur Vermeidung von kleinräumigen Verhältnissen bei der Positionierung der Messstellen (Anhang III, C).

  1. Warum wurden die Messstationen nicht korrigiert?

Die Änderungsvorschläge sind eine Verwässerung der Bedingungen für die Positionierung von Messstellen, sie können gar beliebig gewählt werden, wenn dies nur dokumentiert wird.

Die – im Übrigen falsch übersetzten Änderungen – sind 2016 via der Änderungsrichtlinie 2015/1480 in die aktuelle 39. BImSchV eingeflossen.

Sollte der Freiraum von 270 Grad um die Messeinlässe in Stuttgart und anderen Stellen zuvor tatsächlich nicht eingehalten worden sein, wurden sie nun mittels der Änderungsrichtlinie rechtzeitig vor den Verwaltungsgerichtsurteilen und möglichen Verkehrsverboten sanktioniert.

Anstatt – analog einer Rückrufaktion bei Herstellern – die Messstationen in seinem Verantwortungsbereich zu korrigieren hat das RP Stuttgart eine Richtlinienänderung unkritisch übernommen. Unkritisch deshalb, weil die RL 2008/50/EG (32) Änderungen nur unter engen Kriterien erlaubt, die offensichtlich nicht eingehalten wurden.

Zwar behauptet die RL 2015/1480 in einer Fußnote, die RL 2004/107/EG Artikel 4 Abschnitt 15 eingehalten zu haben, es stimmt aber nicht.

„Sämtliche zur Anpassung der Bestimmungen des vorliegenden Artikels und des Anhangs II Abschnitt II sowie der Anhänge III bis V an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt erforderlichen Änderungen werden gemäß dem in Artikel 6 genannten Verfahren angenommen; dabei dürfen jedoch keine direkten oder indirekten Änderungen der Zielwerte vorgenommen werden.“

  1. Stuttgart misst bewusst unter „Worst Case“-Bedingungen weiter

Es gibt keinen im AQUILA Position Paper dokumentierten wissenschaftlichen oder technischen Fortschritt, der die genannten Änderungen erforderlich gemacht hätte.

Zudem muss davon ausgegangen werden, dass derartige Änderungen der Messbedingungen eine indirekte Änderung der Zielwerte darstellen. Alle verfügbare Literatur, auch die oben zitierte, stützt diese Annahme. Das muss auch für das RP Stuttgart offensichtlich gewesen sein.

Anstatt die betreffenden Messstationen unter ‚Worst case‘-Bedingungen weiter zu betreiben, hätte das RP Stuttgart schon im Interesse der Bürger bei der EU vorstellig werden und auf diese Problematik beim Verfahren vor den Verwaltungsgerichten hinweisen müssen.